Experten warnen: dreht sich bei Betroffenen jeder Gedanke um die Qualität und die maximale Gesundheit der verzehrten Lebensmittel, kann Orthorexie auf die Spitze getrieben – analog zur Magersucht – nicht nur schwere körperliche Beschwerden mit sich bringen, sondern auch in Vereinsamung und gesellschaftlicher Ausgrenzung enden. Mangelerscheinungen aufgrund der hoch-selektierten Nahrungsaufnahme und Abkapselung von Anders-Gesinnten seien bei Orthorexie ebenfalls Konsequenzen des extremen Verhaltens von Betroffenen.
„Vom gesunden Essen besessen“ – kaum noch Lebensmittel, die die hohen Standards erfüllen können
Dass Zucker und Kohlenhydrate wie Weizenprodukte tabu sind, kann man sich aufgrund der breitgefächerten Diät-Kundigkeit der heutigen Gesellschaft noch vorstellen. Dass Milch verteufelt ist, wird manchem schon schwerer fallen, kann man sich aber dank Laktose- und Vegan-Wahn auch noch eingehen lassen. Doch bei von Orthorexie betroffenen Menschen wird selbst Obst und Gemüse, das konventionell allgegenwärtig angebaut und industriell verarbeitet in die Läden wandert, missbilligend beäugt verschmäht.
Auf dem Speiseplan stehen im Extremfall nur noch Lebensmittel, die aus dem eigenen Garten oder dem heimischen Balkon-Blumenkasten kommen – und auch hier lang nicht alles, was der Garten hervorbringen könnte! In einigen Fällen sprechen Psychologen von krankhaftem Glauben an die ausschließlich gesunde Ernährung. Auch die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie warnte kürzlich vor der Orthorexie. Bei diesem Krankheitsbild seien die Menschen regelrecht „von gesundem Essen besessen“.
Soziale Abkapselung durch Gesundheits-Fanatismus
Deutlich sichtbare Abmagerung und teils gefährliche Mangelerscheinungen seien eine konsequente Folge der stark reduzierten Nahrungsmittel-Palette. Seien Orthorektiker so stark von ihrem Glauben an die gesunde Ernährung eingenommen, dass sie Essenseinladungen von Freunden und Bekannten regelmäßig ablehnen würden, um den Ernährungsplan nicht zu unterbrechen und „ungesundes“ Essen zu umgehen, so könnte Experten zufolge als weitere Konsequenz der Orthorexie auch die (freiwillige) gesellschaftliche Ausgrenzung und Vereinsamung hinzukommen.
„Dann hat gesundes Essen krankhafte Ausmaße angenommen. Das Risiko für eine Depression ist wegen des weggebrochenen Beziehungsnetzes deutlich erhöht“, so Ulrich Voderholzer, Psychiater, Psychotherapeut und ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee.
Kontrolle und Schuldgefühle – Analogie zur Magersucht
Darüber hinaus sehen Psychologen aufgrund des Kontroll-Suchens eine Parallele zur Magersucht. Betroffenen ginge es ihnen zufolge nicht ausschließlich um das gelobte gesunde Essen, auch zwanghafte Züge und Kontrollverlangen spielen eine Rolle bei der Orthorexie. Essen Orthorektiker vermeintlich „ungesunde“ Nahrung, seien oft Schuldfgefühle und Scham die Folge. Auch die Angst davor, die Kontrolle über das eigene Handeln zu verlieren und sich selbst so Schaden zuzufügen, seien beobachtete Gefühlsreaktionen bei einem „Verstoß“ gegen die eigenen Lebensmittel-Leitlinien.
Besonders bei Frauen sei eine erhöhte Gefahr für den Gesundheits-Zwang befürchtet, da auch der Wunsch nach Schlankheit und geringem Gewicht eine Rolle bei der Orthorexie spielen, so Experten. „Deshalb scheint die Orthorexie zumindest bei einigen Patienten eine Variante der Magersucht zu sein“, so Friederike Barthels, Psychologin am Institut für Experimentelle Psychologie der Universität Düsseldorf.
Orthorexie: kein Krankheitsbild, aber Vorstufe zur Essstörung?
Orthorexie ist bislang nicht als medizinisches Krankheitsbild anerkannt, die Diagnose ist bislang umstritten. Voderhölzer jedoch sieht sie als eine Vorstufe einer Essstörung. Auch die Studienergebnisse von Barthels deuten in dieselbe Richtung.
„Orthorexie ist vielfach das Ergebnis einer Suche nach Orientierung in einer komplexen Gesellschaft. Gesundes Essen wird zur Ersatzreligion, stabilisiert das Selbstwertgefühl“, so Voderholzer. Betroffene sind von ihren Ernährungs-Leitlinien überzeugt und wollen diese strikt einhalten. „Und das, obgleich wir bei einer Studie festgestellt haben, dass bereits eine mittelschwere Orthorexie einen Leidensdruck, eine verringerete Lebenszufriedenheit, geringeres persönliches Wohlbefinden verursacht“, meint Barthels.
Die Experten sind sich zumindest in einem einig: führt das Streben nach gesundem Essen zu einer Verhaltensänderung nicht nur bei der Nahrungsaufnahme, sondern auch im Umgang mit dem sozialen Umfeld und sind Ausnahmen von der Regel undenkbar, können dies ernstzunehmende Anzeichen für einen falschen Umfang mit gesundem Essen sein. Betroffene sollten sich der eigenen körperlichen sowie geistigen Gesundheit zuliebe an Psychologen oder Psychotherapeuten idealerweise mit Spezialisierung auf Essstörungen wenden.