Die deutsche Energiewirtschaft muss sich einem massiven Umbruch stellen. Das ist historisch zu verstehen: Die deutsche Strom- und Gaswirtschaft war über mehr als ein Jahrhundert zentralistisch organisiert. Den ersten Einschnitt gab es mit der schrittweisen Liberalisierung der Märkte seit Ende der 1990er Jahre, welche die Monopole aufbrach und eine vertikale Wertschöpfungskette schuf, in der regulatorisch die Erzeugung, der Handel und der Verbrauch klar getrennt wurden. Fast zeitgleich kam als Marktinstrument das deutsche EEG (Erneuerbare-Energien-Gesetz) hinzu, das international viele Nachahmer fand. Durch den Vormarsch der erneuerbaren Energien, auf den das EEG schließlich nur reagiert hatte, bewirtschaften heute viele neue Marktteilnehmer einzelne Teile der Wertschöpfungskette. Die ehemals vertikale Stromlieferkette hat sich zum komplexen, dezentralen Beziehungsgeflecht gewandelt, das unter anderem durch eine Individualisierung der Erzeugung und des Verbrauchs gekennzeichnet ist. Was hat das für Auswirkungen auf die Marktentwicklung?
Verlagerung der Wertschöpfung
Die Wertschöpfung hat sich durch das Erzeugen von Solar- und Windstrom auf privaten Dächern und in den Vorgärten von Eigenheimbesitzern dezentral ausgeweitet. Daraus ergeben sich Chancen, Potenziale – und Konflikte, denn die monopolistische Stromwirtschaft bedeutete auch ein Machtmonopol und die Möglichkeit des Preisdiktats. Die jüngste Entwicklung ist aber nicht aufzuhalten. Im Mai 2015 waren aus erneuerbaren Energien in Deutschland 46.000 Megawatt Leistung in über einer Million Einzelanlagen installiert. Der Anteil am Strommix hat die Grenze von 25 Prozent inzwischen deutlich überschritten, nun müssen Solar- und Windstrom nur noch beweisen, dass sie auch ohne EEG-Subvention am Markt bestehen können. Das funktioniert teilweise schon, es gibt beispielsweise im sonnigen Bayern Solarstromproduzenten, die konventionelle Erzeugerpreise erreichen und teilweise (wetterabhängig) unterfliegen. Die Energiewirtschaft 4.0 kommt also voran, sie erzeugt aber auch einen unbeschreiblichen Umbruch in der Branche der Energieversorger. Experten sehen mehrere Aufgaben anstehen:
- Die Lastaufnahme und -abgabe ins Netz, die wetterabhängig stark schwankt, bedarf sehr flexibler und intelligenter Regelungen. Ein SmartNet muss die Regelung der Stromverteilung online und automatisiert vornehmen. Dazu gehören auch innovative Preis- und Abrechnungsmodelle.
- Es bedarf daraus folgend einer ökonomischen Harmonisierung zwischen konventionellen und erneuerbaren Energien, denn noch längst nicht kann ein Staat wie Deutschland auf Kohle-, Öl- und Gasstrom verzichten.
- Der Ausbau sogenannter “virtueller Kraftwerke”, die ein Energiemanagement-System der Erzeugung, Verteilung und des Verbrauchs darstellen, muss sehr zügig vorangetrieben werden.
- Die Energiewirtschaft 4.0 bedarf eines zentralen Paradigmenwechsels. Dieser muss zu einer Neubewertung der einzelnen energiewirtschaftlichen Positionen führen. Prognosen sollten künftig nicht nur die Erzeugung und den Verbrauch, sondern auch die Flexibilität von Produzenten und Abnehmern bewerten. Das bedeutet: Wie schnell lässt sich ein konventionelles Kraftwerk von Grund- auf Spitzenlast und umgekehrt regeln? Wie verlässlich sind Wettprognosen, die Rückschlüsse auf die Erzeugung von Solar- und Windkraft zulassen? Wie flexibel können Verbraucher den Strom zu den Zeiten abnehmen, wenn er durch erneuerbare Energien im Überfluss zur Verfügung steht? Wie lässt sich das über Preismodelle regeln?
Auswirkungen auf Verbraucher und Unternehmen
Die Verbraucher begrüßen die Energiewende mehrheitlich, öffentliche Gegenpositionen sind praktisch nicht zu vernehmen. Strom aus Sonne und Wind findet jeder toll, nur die Stromleitung der Nordsee-Windkraft durch die geliebte bayerische Alm finden Anwohner nicht so toll. Sie haben jedoch Ilse Aigner, die flugs vorschlägt, die Trassen doch durch Hessen zu führen (was ihr hessischer Kollege leise belächelt hat). Hinter vorgehaltener Hand äußern dennoch manche Verbraucher Bedenken: Kann das alles nicht sehr teuer werden? Die Sorgen bestehen nicht vollkommen zu Unrecht, denn ein gigantisches Vorhaben wie die deutsche Energiewende gibt es nicht zum Nulltarif. Nur ist bislang von essenziellen Preiserhöhungen nicht viel zu spüren, was wiederum mit dem Markt selbst zusammenhängt. In diesem herrschen traditionell recht niedrige Margen, die durch den Wettbewerb, den die dezentrale Energiewirtschaft 4.0 schafft, teilweise auf kümmerliche bis ruinöse Anteile fallen. Das kann nur bedeuten, dass einige Unternehmen der Energiewirtschaft die Energiewende nicht überleben werden. Schon jetzt lassen Konzerne auch jüngere Kohle- und Gaskraftwerke mangels Rendite abschalten, eine Folge der Energiewende, wie lautstark kommuniziert wird. Sämtliche Anbieter der Stromwirtschaft geraten aktuell unter Druck, eine Preiserhöhung kann sich also niemand leisten. Wohin die Entwicklung führt, werden die nächsten fünf bis zehn Jahre zeigen. Die Digitalisierung der Netze dürfte dann abgeschlossen, das SmartNet Realität, die Energieverteilung und Laststeuerung wesentlich intelligenter geregelt sein. Dann pegeln sich neue Preismodelle endlich ein, der Verbraucher kann wieder mittel- und langfristig kalkulieren. Sein großer Vorteil: Eine Ölkrise wird in Zukunft längst nicht mehr die dramatischen Auswirkungen auf unsere Energiepreise haben, wie das heute noch zu befürchten ist.